Abwarten war gestern
Mehrheitlich wird nun von einer Kurserholung am Aktienmarkt ausgegangen.
Nach Wendepunkten vergessen Börsianer die Vorwendezeit
Der Höhepunkt der Inflation in den USA liegt nun wohl hinter uns und der Hochpunkt auf der Messlatte einzelner Zinsanhebungen in den USA liegt mit 75 Basispunkten vermutlich auch hinter uns. Dass die Zinsen im Dezember noch einmal um 75 Basispunkte angehoben werden, wird von den Marktteilnehmern inzwischen als unwahrscheinlich eingestuft. Ob es nun 50 oder gar nur 25 Basispunkte werden: diese Frage könnte im Dezember womöglich niemanden mehr interessieren. Die Börsianer reagierten auf Wendepunkte immer schon sensibler als auf Hoch- oder Abstufungen. Wenn die Wende einmal da war, ist die Vorwendezeit älter als eine Schokoladenpackung, die als Haltbarkeitsdatum Oktober 2022 anzeigt. In die Schokolade beißen wir am Heiligabend trotzdem rein. Börsennachrichten vom Oktober 2022 ? Die liest im Dezember niemand mehr.
Wird passives Investieren wieder rentabel?
Jetzt also alle Short- und vor allem alle Cash Positionen auflösen und endlich wieder Aktien und Anleihen kaufen und liegen lassen ? Der Augenblick, wo sich niemand mehr traut, nichts zu tun, ist in der Vergangenheit häufig ein guter Startpunkt für das Nichtstun gewesen. Aber um mit dem Nichtstun beginnen zu können, muss man an der Börse leider vorher aktiv werden: Das Kaufen nimmt uns heute keiner ab.
Technischer Analyst & Wikifolio Trader
Können wir nun also endlich wieder passiv Geld verdienen und müssen uns nicht mehr anstrengen, um Outperformance über zeitaufwändiges Traden zu erreichen? Langfristige Statistiken zeigen, dass Investoren, die ihr Glück im “Timing des Marktes” versuchen, meist schlechter als diejenigen abschneiden, die das volle Marktrisiko auf sich nehmen und Stockpicking bei dauerhaft hoher Cashquote betreiben. Klar, wer das hier und jetzt beweisen will, dass diese Statistik auch für 2022 rückwirkend zutreffend ist, wird das nicht bestätigen können. Für dieses Jahr waren Cash und Short King. Jede Statistik ist vom Zeitpunkt ihrer Analyse abhängig, selbst dann, wenn die Datenreihen mehr als hundert Jahre zurück liegen.
Was sehen wir unter dem Radar der großen Aktienindizes?
Nachdem es am Donnerstag zu immens vielen Hochstufungen bei der Vergabe der Tagesstempel kam, blieben Hochstufungen am Freitag rar gesät.
Cannabis Aktien sind nun auch kaufbar
Nur vier Branchen zogen nach und erhalten ab heute ebenfalls den Tagesstempel “Kaufen oder Aufstocken”: Cannabis, 3D-Druck, Genomics, Schifffahrt. Na, wenn Cannabis Aktien kaufbar wären, was wäre dann nicht kaufbar? Richtig: Nichts. Keine einzige Branche erhält für heute den Tagesstempel “Abwarten oder auf Sell Off spekulieren”. Abwarten war gestern, sagt heute der Marktradar.
Oder doch nur eine Bärenmarktrallye ?
Ich bleibe dennoch bei meiner Ansicht: Ich gehe solange von einer Bärenmarktrallye aus, bis der Bereich Semiconductor stärker als der Bereich Stahl steigt. Um darauf zu spekulieren, könnte man einen Pair Trade SMH Long und SLX Short aufsetzen. Mit SMH ist der ETF für Semiconductor gemeint, mit SLX der ETF für Stahl. Und passend zu dieser Idee – als hätte der Markt mich am Freitag gehört -, sah ich am Wochenende schöne Gimmees an den oberen Bollinger Bändern bei Stahlaktien, für die der MACD auch die passende Divergenz dazu liefert: Die beiden Aktien aus der Stahlbranche Nucor (NUE) und Commercial Metals (CMC) zeigen nun so ein Gegentrendsignal in ihren Charts.
Autos und Möbel waren Freitag gefragter als Lebensmittel
Zu den stärksten Branchen am Freitag gehörten Bekleidung, Autos, Möbel – also Nichtbasiskonsumgüter. Der entsprechende ETF XLY liegt mit dem Tagesstempel “Unter Beobachtung” tatsächlich aber am untersten Ende des Rankings – mit den Top Ergebnissen vom Freitag wittert dieser Sektor nun womöglich „Nachholbedarf“. Wer an den Wendepunkt bei Aktien generell glaubt, könnte also einen Pair Trade XLY Long und XLP Short wagen. Also zyklische Konsumgüter Long und defensive Konsumgüter Short.
Bei den Autoherstellern stach der Tagesgewinn von 30 % beim Smallcap Canoo (GOEV) heraus. Die mit ca. 300 Mio USD kapitalisierte Firma stellt u. a. Elektro-Transporter für Supermärkte her. Laut Homepage des Unternehmens hat Walmart 4.500 dieser Fahrzeuge gekauft. Das Unternehmen plant in Oklahoma eine Batteriefabrik zu bauen. Canoo ist als eine Hot Stock Aktie zu klassifizieren, die zuletzt in hohem Maße von Shortsellern auf fast 1 $ runter geprügelt wurde. Aber eben nur fast. Am Freitag stieg die Aktie von 1,21 auf 1,58 $. Die Leerverkäufer können ihr Pennystock-Ziel nun wohl “abschreiben”, d.h. die Eindeckung mit Canoo Aktien (FinViz zeigt in Canoo einen Short Float von 17,36 % an) könnte in den nächsten Tagen und Wochen fortgeführt werden. Hey Wallstreetbots: seid Ihr noch da?
Recht interessant aus der Branche Autohersteller sieht der Chart bei General Motors (GM) aus. Über acht Handelstage hat sich eine flache Basis gebildet, die am Freitag nach oben hin verlassen wurde. Die flache Basis kann als Griff zu einer Tasse gewertet werden. Die Aktie notiert aktuell bei 41,12 $. Auf dem Weg nach oben warten jedoch erst noch horizontale Widerstände um 42 und 46 USD. Eine steil nach oben laufende Rallye würde ich nun nicht in GM erwarten. Dafür ist im Chart von GM nun ein konstruktiver Fortschritt beim Projekt Bodenbildung zu erkennen.
Zu den schwächeren Sektoren gehörten am Freitag die Branchen Versicherungen, Rüstung und der E-Learning Bereich.
Interessantes Handelsvolumen in einer E-Learning Aktie gesichtet
In der E-Learning Aktie Adtalem Global Education (ATGE) sehe ich nach den am 3. November nachbörslich vorgelegten Quartalszahlen, die im Gewinn deutlich und in den Umsätzen leicht über den Erwartungen der Analysten lagen, nun eine gute Nachkauf- bzw. Einstiegschance. Die drei letzten Handelstage schloss die Aktie jeweils unter dem Eröffnungskurs und auch jeweils nah am Tagestief. Dieser Abverkauf während der Handelszeiten erfolgte bei deutlich niedrigerem Handelsvolumen als an den vier Handelstagen zuvor, an denen die Aktie genau das Gegenteil tat: ATGE schloss jeweils über dem Eröffnungskurs und auch jeweils nah am Hoch. Hier zeigt das Handelsvolumen deutlich an, dass es sich um eine Konsolidierung und nicht um eine Trendwende handelt. Mein zweiter Favorit aus dieser Branche, Grand Canyon Education (LOPE), wurde nach dem Earning Day – die Aktie schoss um 15 % in die Höhe -, weiter gekauft und stieg um weitere 10 Prozent an; notiert jetzt bei 108,36 $. Die 100er Marke wurde nahezu widerstandslos überwunden: sie diente vier Handelstage lang als Unterstützung, bevor die Aktie schließlich die flache Basis über der 100er Marke nach oben hin verließ. Was Grand Canyon Education gelang, sollte Adtalem Global Education eigentlich zeitversetzt auch gelingen. Adtalem Education Global Education erscheint mir mit einem KGV23e von 10 und einem KUV23e von 1,30 deutlich unterbewertet.
Nun raus aus Rüstungsaktien ?
Die Rüstungsaktien Lockheed Martin (LMT) und Northrop Grumman (NOC) verloren am Freitag kräftig: LMT fast 6 %, NOC über 7 %. Womöglich antizipiert die Börse nun, dass der Krieg in der Ukraine kurz vor dem Ende steht – zumindest was die militärischen Auseinandersetzungen betrifft. Das wäre ein extrem gutes Signal, natürlich weit über die Börse hinaus.
Hinweis:
Gemäß §34 WpHG weise ich darauf hin, dass die Kolumne “Marktradar” ausschließlich Informationszwecken dient und in keinem Fall Empfehlungen zum Kauf von Aktien oder anderen Wertpapieren darstellen. Ich gebe hier ausschließlich meine eigene Meinung wieder und berate niemanden. Die hier vorgetragenen Ideen können vom Autor aktiv in seinen privaten Depots (inklusive wikifolios) umgesetzt werden oder auch nicht. Interessenkonflikte können in jedem Fall und jederzeit bestehen. Auch wenn ich die Kolumne nach bestem Wissen und Gewissen schreibe, können jederzeit Fehler auftauchen. Die Haftung für Vermögensschäden, die aus der Nutzung der von mir veröffentlichten Ausführungen für eine Anlageentscheidung resultieren können, ist kategorisch ausgeschlossen. Ich lehne jegliche Haftung für allfällige Verluste oder Schäden irgendwelcher Art ab, die direkt oder indirekt durch die Benutzung des Inhalts entstehen.
Neueste Kommentare